Was soll künftig für wen beim Familiennachzug gelten?
Die Kantonsregierungen können zu einer Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes (Anpassung der Wartefrist beim Familiennachzug von vorläufig Aufgenommenen) Stellung nehmen. Der aargauische Regierungsrat begrüsst dazu, dass die Anforderungen, welche sich aus der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVGer) im Zusammenhang mit Wartefristen im Familiennachzug ergeben, im Gesetz verankert werden sollen und die gesetzliche Wartefrist für den Familiennachzug von vorläufig Aufgenommenen auf zwei Jahre reduziert werden soll. Dies schreibt die aargauische Regierung in einer Vernehmlassungsantwort an das Staatssekretariat für Migration (SEM).
EGMR: Drei Jahre Wartefrist sind zuviel
Die Grosse Kammer des EGMR ist im Sommer 2021 in einem Grundsatzurteil zum Schluss gekommen, dass eine gesetzliche Wartefrist von drei Jahren beim Familiennachzug nicht mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens vereinbar sei und ab einer Wartefrist von mehr als zwei Jahren immer eine Einzelfallprüfung erfolgen müsse. Das BVGer hat sich im November 2022 zu den Konsequenzen dieser Rechtsprechung für die Schweiz geäussert und dabei festgehalten, dass die Schweiz auch bei Urteilen des EGMR, die sie nicht direkt betreffen, die Pflicht habe, die jeweils erforderlichen individuellen und allgemeinen Massnahmen zu treffen, um künftige ähnliche Konventionsverletzungen zu verhindern. Dies habe nötigenfalls auch durch eine Anpassung des nationalen Rechts zu geschehen.
Die Rechtsprechung des EGMR zur zulässigen Dauer einer Wartefrist für den Familiennachzug wird vom Staatssekretariat für Migration (SEM) in seinen Weisungen und in seiner Praxis berücksichtigt. Die vorgeschlagene Gesetzesänderung wird daher von den zuständigen Behörden bereits umgesetzt, ohne dass dies zu merklichen Schwierigkeiten geführt hätte. Es spreche deshalb nichts gegen die Anpassung der gesetzlichen Wartefrist für den Familiennachzug von vorläufig Aufgenommenen, schreibt der Regierungsrat.
Die Anpassung verursache zwar eine zeitliche Verschiebung, aber keine zusätzlichen Gesuche und somit auch keinen Mehraufwand für die kantonalen Migrationsbehörden, zumal die anderen Voraussetzungen, welche Art. 85 Abs. 7 des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (Ausländer- und Integrationsgesetzes, AIG) für den Familiennachzug von vorläufig Aufgenommenen vorsieht, insbesondere die in der Praxis oft ausschlaggebende Voraussetzung der Sozialhilfeunabhängigkeit, bestehen bleiben.
Die Kantonsregierung weist bei dieser Gelegenheit darauf hin, dass Art. 85 AIG, der die Ausgestaltung der vorläufigen Aufnahme regelt, auf zwei verschiedene Personengruppen Anwendung findet, deren Rechtspositionen sich stark unterscheiden. So verfügen vorläufig Aufgenommene mit Flüchtlingseigenschaft aufgrund ihres konventionsrechtlichen Status über andere Rechtsansprüche als vorläufig aufgenommene Personen ohne Flüchtlingseigenschaft. Dies gelte nicht nur, aber insbesondere im Bereich des Familiennachzugs, schreibt die Kantonsregierung weiter.
Regierung zu vorläufig Aufgenommenen: allfällige Sozialhilfeabhängigkeit angemessen berücksichtigen
te klar zwei Diesbezüglich verweist sie auf die neuere Rechtsprechung des EGMR und die in diesem Zusammenhang geplante Anpassung der Weisungen des SEM, wonach beim Familiennachzug für Flüchtlinge mit vorläufiger Aufnahme die konkreten Hintergründe einer allfälligen Sozialhilfeabhängigkeit in einer Einzelfallbeurteilung angemessen berücksichtigt werden müssen. Es wäre aus Sicht des Regierungsrats wünschenswert, dass die unterschiedlichen Rechte und Pflichten dieser beiden Personengruppen auch im Gesetz klar ersichtlich sind.
Das antwortete Bundesrat Beat Jans auf Frage von Christoph Riner
In der Sommersession im Juni 2024 hat SVP-Nationalrat Christoph Riner zu diesem Thema in der Fragestunde eine skeptische Frage eingereicht. Hier seine Frageim Wortlaut: "Ein Urteil des EGMR bzgl. Wartefrist Familiennachzug von vorl. Aufg. wird trotz lauf. Vernehmlassung umgesetzt.
- Wieso setzt der Bundesrat vorauseilend ein EGMR-Urteil um, mit dem Dänemark, nicht die Schweiz, verurteilt wurde?
- Erachtet sich der Bundesrat verpflichtet, ein Urteil des Bundesverwaltungsger. zu befolgen, das ein nicht die Schweiz betr. EGMR-Urteil umsetzt und dabei geltend. schweiz. Recht missachtet?
- Stehen EGMR und BVGer nach Auffassung des Bundesrats über der Bundesversammlung?"
Der zuständige Bundesrat Beat Jans antwortete dazu am 10. Juni laut wie folgt: "Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in einem Grundsatzurteil festgehalten, dass eine gesetzliche Wartefrist von drei Jahren beim Familiennachzug von ausländischen Personen nicht vereinbar ist mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens gemäss Europäischer Menschenrechtskonvention (EMRK). Das Bundesverwaltungsgericht hat in der Folge die im Ausländer- und Integrationsgesetz vorgesehene dreijährige Wartefrist als völkerrechtswidrig bezeichnet und die EMRK-Konformität auf dem Wege der Rechtsprechung herbeigeführt. Das SEM muss daher bereits ab einer Wartefrist von zwei Jahren prüfen, ob die Voraussetzungen für den Familiennachzug gegeben sind."