Patient starb nach Selbstverletzungen: Verwarnung der Abteilung Gesundheit gegen die PDAG
Die Abteilung Gesundheit des Departement Gesundheit und Soziales (DGS) hat nach zwei Aufsichtsanzeigen aus dem Jahr 2021 die Aufsichtsverfahren gegen die Psychiatrische Dienste Aargau AG (PDAG) abgeschlossen. Diese betrafen zum einen die Behandlung eines 18-jährigen Patienten mit Autismus, der infolge Selbstverletzung am 30. Dezember 2020 in ein Akutspital eingeliefert wurde und wenige Tage darauf verstorben ist, und zum anderen die Behandlung einer Patientin mit mehreren Diagnosen.
Die Abteilung Gesundheit spricht im Fall des verstorbenen Patienten wegen mangelhafter Aufsicht beziehungsweise unterlassener Anordnung von weitergehenden notwendigen Massnahmen sowie ungenügender Kontrolle der Medikation/Therapie eine Verwarnung aus. Auch der Aufsichtsanzeige betreffend die Patientin leistet die Abteilung Gesundheit teilweise Folge. Die Abteilung Gesundheit setzt der PDAG in beiden Aufsichtsverfahren eine Frist von neun Monaten ab Rechtskraft, um die festgestellten Mängel zu beheben. In einigen Punkten hat die Abteilung Gesundheit den Aufsichtsanzeigen keine Folge geleistet.
Patient verletzte sich wiederholt durch absichtliche Stürze selbst
Im Dezember 2020 hat sich ein Patient in Obhut der PDAG wiederholt durch absichtliche Stürze selbst verletzt. Die Verantwortlichen der PDAG haben die Stürze bemerkt. Am 30. Dezember 2020 haben Mitarbeitende der PDAG den Patienten bewusstlos aufgefunden. Ein Rettungshubschrauber hat ihn umgehend in ein Spital transferiert, wo er wenige Tage später seinen selbstzugefügten Verletzungen erlegen ist. Die Eltern des Patienten haben sich im April 2021 an die Abteilung Gesundheit gewandt. Diese hat in der Folge ein Aufsichtsverfahren eröffnet, welches nun abgeschlossen ist.
Im Rahmen des Aufsichtsverfahrens betreffend den verstorbenen Patienten untersuchte die Abteilung Gesundheit die Themenbereiche psychiatrische Diagnosestellung sowie psychiatrische Behandlung und Medikation. Die Abteilung Gesundheit stellte im Zusammenhang mit der Beurteilung der drei Themenbereiche auf ein Gutachten der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich ab. Weiter hat sie eine externe Prozess- und Strukturanalyse der PDAG durch die KPMG AG (KPMG) in Auftrag gegeben.
Gutachten sagt: Beeinträchtigungen des Patienten am Unfalltag hätte eine anhaltende 1:1-Betreuung erfordert
Die Gutachterin der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich folgerte aufgrund der ihr vorgelegten Akten, dass die Beeinträchtigungen des Patienten am Unfalltag eine anhaltende 1:1-Betreuung erfordert hätten. Sofern eine 1:1-Betreuung nicht möglich gewesen wäre beziehungsweise sofern sich therapeutische, nachvollziehbare Gründe gegen die Anordnung einer solchen Massnahme ergeben hätten, hätte die PDAG gemäss den Erwägungen der Gutachterin alternative Massnahmen zwingend prüfen müssen.
Alternative Massnahmen wären beispielsweise die Verlegung des Patienten in ein anderes Spital mit Kapazitäten für eine 1:1-Betreuung, die Verlegung in ein Weichzimmer der PDAG oder – als wohl letzte Massnahme – die Fixierung des Patienten gewesen. Weiter wäre aus Sicht der Gutachterin die Kontrolle der Wirkspiegel der Medikamente im Blut aufgrund der Vorgeschichte des Patienten notwendig gewesen.
Zumindest nicht die notwendigen Schutzmassnahmen ergriffen
Medizinische Gründe, weshalb die PDAG die genannten Massnahmen zur kurzfristigen Gefahrenabwehr am Unfalltag nicht ergriffen hat, können gemäss den Ausführungen der Gutachterin aus heutiger Sicht nicht benannt werden. Im Wesentlichen hat die PDAG somit an diesem Tag das Selbstgefährdungspotenzial falsch eingeschätzt oder zumindest nicht die notwendigen Schutzmassnahmen ergriffen, um die Selbstverletzungen zu verhindern oder ausreichend zu minimieren. Damit sind die Voraussetzungen zum Aussprechen einer Disziplinarmassnahme nach Spitalgesetz in Form einer Verwarnung erfüllt.
Die Abteilung Gesundheit räumt der PDAG eine Frist von neun Monaten ab Rechtskraft dieses Entscheids ein, um ein Konzept vorzulegen, welches das Vorgehen und die anzuwendenden Schutzmassnahmen bei Patientinnen und Patienten aufzeigt, von denen ein akutes, erhebliches Selbstverletzungsrisiko ausgeht.
Zu verschiedenen anderen erhobenen Punkten der Aufsichtsanzeige entlastet die Abteilung Gesundheit die PDAG. Es liegen keine Nachweise vor, dass die Behandlung des Patienten bis zum Unfalltag mangelhaft gewesen wäre.
Einbezug von therapeutischen Autismusstellen soll verbessert werden
Im zweiten Aufsichtsverfahren gegen die PDAG betreffend die Behandlung einer Patientin mit mehreren Diagnosen gab die Abteilung Gesundheit ein unabhängiges medizinisches Gutachten in Auftrag. Das Gutachten des beauftragten Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie basiert auf dem Studium der Akten der PDAG. Der Gutachter erachtet die von den Eltern dargestellten Vorwürfe gegen die PDAG nach Durchsicht der Akten als widerlegt. Zu diesem Schluss kommt auch die Abteilung Gesundheit, weshalb die Voraussetzungen zum Aussprechen einer Disziplinarmassnahme – wie beispielsweise einer Verwarnung – nicht erfüllt sind.
Jedoch orten der Gutachter und die Abteilung Gesundheit Verbesserungspotenzial betreffend das Thema Autismus. Es fehlt ein Konzept, wie das Know-how von therapeutischen (und nicht nur diagnostischen) Autismusstellen der PDAG in den Behandlungsplan eingebracht werden kann. Deshalb leistet die Abteilung Gesundheit der Aufsichtsanzeige teilweise Folge und setzt der PDAG eine Frist von neun Monaten ab Rechtskraft dieses Entscheids zur Erarbeitung eines solchen Konzepts.
Prozess- und Organisationsanalyse durch die KPMG
Weil die Abteilung Gesundheit gleichzeitig zwei Aufsichtsverfahren gegen die PDAG zu behandeln hatte, gab sie zudem ein externes Gutachten zur Struktur und Organisation der PDAG in Auftrag. Die KPMG AG konnte laut Mitteilung des DGS im Rahmen der durchgeführten Prozess- und Organisationsanalyse für die PDAG keine markanten Abweichungen zum Branchenstandard identifizieren.
An der Klinik für Erwachsenenpsychiatrie und Psychotherapie (KPP) der PDAG hat die KPMG jedoch beanstandet, dass die einzelnen Prozesse der Prozesslandkarte nicht vollständig definiert sowie unvollständig durchgängig dokumentiert seien. Auch seien in der KPP organisatorisch-prozessuale Mängel erkennbar; insbesondere würden Funktionendiagramme und Stellenbeschreibungen sowie Kompetenz-Reglemente fehlen.
Des Weiteren seien Führungsstruktur und Führungskultur in der KPP zu verbessern und für schnellere sowie partizipativere Entscheidungsfindungen zu sorgen. Die Ergebnisse der Analyse wurden der PDAG präsentiert. Diese hat bereits verschiedene Massnahmen zur Umsetzung der Empfehlungen aus der Prozess- und Strukturanalyse der KPMG eingeleitet. Die bereits eingeleiteten und teilweise umgesetzten Massnahmen umfassen unter anderem die weitere Optimierung der Mitarbeitenden-Zufriedenheit, den Ausbau der Fort- und Weiterbildungsangebote, den Ausbau der klinischen Forschung sowie die Verbesserung der Führungsstruktur und Führungskultur.
Die Abteilung Gesundheit setzt der PDAG auch hier eine Frist von neun Monaten ab Rechtskraft des Entscheids, um ein Konzept inklusive Zeitplan vorzulegen, das Optimierungen respektive Aktualisierungen von Prozesslandkarte, von Weisungen, Richtlinien und Dokumenten und des integrierten Managementsystems aufzeigt.