Raschmöglichster Neubau eines KKW im Aargau? - Darum lehnt die Regierung eine SVP-Motion ab
Der Regierungsrat lehnt die SVP-Motion für den raschmöglichsten Neubau eines Kernkraftwerkes im Kanton Aargau ab. Dies geht aus der heute publizierten Antwort der Regierung hervor. Die Bundesverfassung regle, dass einzig der Bund für die friedliche Nutzung der Kernenergie zuständig ist, schreibt die Regierung.
Blackout-Initiative: Bestrebungen des Bundesrats in Gang
Im Rahmen der 2017 vom Volk gutgeheissenen Energiestrategie 2050 des Bundes wurde das Kernenergiegesetz mitunter dahingehend angepasst, dass der Bau neuer KKW verboten ist (Art. 12a). Mit Verweis auf die zustande gekommene Blackout-Initiative sind zurzeit Bestrebungen des Bundesrats im Gang, das bestehende Rahmenbewilligungsverbot für neue KKW in der Schweiz aus dem KEG zu streichen. Der Kanton Aargau ist Standort von drei KKW: Beznau I, Beznau II und Leibstadt, sowie dem Paul Scherrer Institut (PSI), welches mitunter auf dem Gebiet der Nuklearforschung tätig ist.
Globaler Saldo von Inbetriebnahme minus Ausserbetriebnahme von KKW ausgeglichen
Alle drei KKW wurden mit Reaktoren der 2. Generation realisiert. Die Technologie hat sich in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt, heisst es in der Antwort weiter. Bau und Betrieb von Kernreaktoren in Europa, in den USA und in Japan haben sich nach den 1970er-Jahren deutlich verlangsamt. Der globale Saldo (Inbetriebnahme minus Ausserbetriebnahme)sei ausgeglichen.
Es befinden sich 71 Reaktoren zurzeit im Bau, 30 alleine in China (mit einem Leistungsanteil von 43 %). Dahinter folgen Indien (11), Russland (5), Ägypten (4), Südkorea (4) und die Türkei (4). Die allermeisten dieser Vorhaben setzen auf russische oder chinesische Hersteller. 80 % der Inbetriebnahmen der letzten zehn Jahre sind in Asien zu finden, während die USA (93 Reaktoren) und Frankreich (56 Reaktoren) weltweit immer noch die meisten Reaktoren in Betrieb haben. Insgesamt zwölf der 27 EU-Mitgliedstaaten betreiben KKW, in nur zwei Ländern sind KKW aktuell im Bau: je eines in der Slowakei und in Frankreich.
Einige EU-Länder planen neue Reaktoren
Einige EU-Länder, vorwiegend in Osteuropa plus Frankreich, Schweden und die Niederlande, planen den Bau von Reaktoren – ohne aber konkrete Schritte zur Realisierung eingeleitet zu haben. Heutzutage werden ausschliesslich Reaktoren der 3. Generation gebaut, was bedeutende Verbesserungen in Bezug auf Sicherheit, Effizienz und Lebensdauer der Anlage mit sich bringen sollte.
Reaktoren der 3. Generation, welche heute gebaut werden, haben in Europa und den USA einen Ruf erworben, deutlich teurer zu sein und deutlich längere Bauzeiten zu haben als bestehende Reaktoren früherer Generationen – dies im Gegensatz zu Reaktoren grösstenteils russischer oder chinesischer Bauart, welche in den letzten zehn Jahren in China (35 Reaktoren), Russland (9), Indien (4), Pakistan (4) und den Vereinigten Arabischen Emiraten (4) in Betrieb genommen wurden.
Geht Flamanville tatsächlich Ende 2024 in Betrieb?
Die jüngsten Projekte in Europa übersteigen laut Antwort die budgetierten Kosten und Bauzeiten um ein Vielfaches. Der Bau von Flamanville 3 in der Bretagne wurde 2007 gestartet und sollte nach 5 Jahren fertiggestellt sein. Die kommerzielle Inbetriebnahme wurde immer wieder verschoben, zuletzt auf Ende 2024. Die Kosten für den 1'600 Megawatt (MW)-Druckwasserreaktor wurden zu Beginn auf 3,4 Milliarden Euro geschätzt, währenddem sich die tatsächlichen Kosten auf knapp 20 Milliarden Euro belaufen werden.
Das britische Projekt Hinkley Point C musste ebenfalls wiederholt Überschreitungen in Kosten und Zeit in Kauf nehmen. Im Januar 2024 gab der Projektentwickler der Électricité de France bekannt, dass die Inbetriebnahme des ersten Reaktors des sich seit 2016 in Bau befindlichen Kraftwerks im Worst-Case Szenario bis 2031 (statt 2025) verzögern könnte. Die erwarteten Baukosten für die zwei Reaktoren à 1'600 MW Leistung wurden von ursprünglich 21 auf bis zu 50 Milliarden Euro nach oben korrigiert, je nach Datum der effektiven Fertigstellung.
Neuer Reaktor im finnischen Olkiluoto kostete 11 Milliarden Euro
Im finnischen Olkiluoto wurde 2022 ein Reaktor des gleichen Typs nach 17 Jahren Bauzeit und Kosten in Höhe von 11 Milliarden Euro in Betrieb genommen (geplant waren 4 Jahre Bauzeit bei 3 Milliarden Euro Kosten). Ein Hinweis auf die Gestehungskosten (Kosten pro gelieferter Einheit elektrischer Energie) von Reaktoren der heutigen Generation gibt Hinkley Point C: Der britische Staat garantiert während 35 Jahren ein Abnahmepreis von GBP 92.50/MWh (14 Rp./[Kilowattstunde]kWh, mit Inflationsausgleich, auf Basis 2012).
PSI rechnet mit theoretischen Gestehungskosten von 7 bis 12 Rp./kWh
Das PSI rechnet dagegen bei konventionellen, neuen KKW mit theoretischen Stromgestehungskosten von 7– 12 Rp. pro KWh. Zu betonen sei, dass sich die Laufzeit, Anzahl Volllaststunden, Bauzeit und Kapitalkosten eines KKW entscheidend auf dessen Rentabilität sowie die Stromgestehungskosten auswirkt. Eine exaktere Aussage sei daher kaum möglich.
Reaktoren der 4. Generation befinden sich in der Entwicklungs- und Forschungsphase. Bisher gelang es nicht, einen Reaktor der 4. Generation in den kommerziellen Betrieb aufzunehmen, währenddem die Entwicklung teilweise bis in die 1950er- oder 1960er-Jahren zurückgeht.
Es wird erwartet, dass die ersten kommerziellen Reaktoren dieser Generation frühestens in den 2030er-Jahren in Betrieb genommen werden. Dasselbe trifft auf das Gros der Small Modular Reactors (SMR) zu: SMR zeichnen sich durch eine geringere elektrische Leistung aus als die bestehenden Reaktoren (1,5 bis maximal 300 MW gegenüber 1'000 MW und mehr). Sie versprechen dadurch ein kleineres Klumpenrisiko für Energieversorger bei sicherheitsbedingten Ausfällen und hohe Wirtschaftlichkeit, die sich dank Modularität und Standardisierung in einer schnelleren und günstigeren Produktion der Module und damit verbundenen Bauprojekten ergründet.
Grösster Nachteil der SMR sei, dass hohe Produktionszahlen benötigt werden, um Skaleneffekte durch Standardisierung zu erzielen. Durch die dezentrale Lagerung und Verwendung von Kernbrennstoffen geht zwar ein kleineres Risiko einzelner SMR gegenüber den herkömmlichen Meilern aus, jedoch kann sich der Aufwand für die Wahrung der Sicherheit, zum Beispiel gegenüber Terrorakten über alle SMR zusammen deutlich erhöhen. 2Derzeit sind zehn SMR in Russland und China in Betrieb, in westlichen Ländern warten erste Pilotprojekte auf die Genehmigung.
An der Kernfusion, dessen Technologie sich grundlegend von den 4. Generationen unterscheidet, wird bereits seit Jahrzehnten geforscht, insbesondere in Frankreich (International Thermonuclear Experimental Reactor; ITER). Mit Kosten- und Zeitüberschreitungen zeichnet sich keine kommerzielle Inbetriebnahme vor 2050 ab.
Kernenergie: Bund federführend, nicht die Kantone
Mit der Kernenergie in der Kompetenz des Bundes haben die Kantone keine federführende Rolle und Handhabung bei der Fragestellung, ob und wie die entsprechende Gesetzgebung zukünftig abgeändert wird. Auch sei der Umfang der anvisierten Änderungen noch nicht abschliessend definiert. So ist zum Beispiel denkbar, dass gleich wie bei beim Zubau von erneuerbaren Energien und beim Um- und Ausbau der Stromnetze, eine Straffung und Beschleunigung der Bewilligungsprozesse vorgesehen wird und/oder neue Sachpläne ausgearbeitet werden.
Auch ist es die Zuständigkeit des Bundes, zu klären, wie er die Finanzierung möglicher neuer KKW andenkt, auch jene der Endlagerung radioaktiver Stoffe. Die vom Bund getroffenen Entscheidungen und die daraus erwachsenden Implikationen übersteuern entsprechende Sachverhalte in den Kantonen.
Was bedeutet dies für den Standortkanton Aargau?
Für den Kanton Aargau als Standortkanton von drei aktiven KKW bedeutet dies, dass zuerst auf Stufe Bund die Rahmenbedingungen für allfällige neue KKW klar ausgelegt werden müssen. Der Kanton muss sich in seiner Planung und seinem Handeln an den geltenden Rechtsgrundlagen orientieren. Derzeit liegen allfällige neue Rahmenbedingungen auf Bundesebene nicht vor. Eine Anpassung von Grundlagen auf Kantonsebene, falls notwendig, sei daher verfrüht.
Regierung begrüsst eine mögliche Laufzeitzeitverlängerung der bestehenden KKW, sofern ein sicherer und wirtschaftlicher Betrieb gewährleistet ist
Ungeachtet dessen begrüsst der Regierungsrat eine mögliche Laufzeitzeitverlängerung der bestehenden KKW, sofern ein sicherer und wirtschaftlicher Betrieb gewährleistet ist. So könne ein substanzieller Beitrag an die Versorgungssicherheit, insbesondere im Winterhalbjahr, geleistet werden. 3. Würdigung der Motion Erlassänderungen im Bereich der Nutzung der Kernenergie sind in der alleinigen Kompetenz des Bundes und nicht der Kantone. Deshalb bestehe kein Gestaltungsspielraum der Kantone.
Regierung: Motion kann nicht umgesetzt werden
Der Motionstext lautet "Der Regierungsrat wird beauftragt, alle notwendigen Vorkehrungen und Absprachen zu treffen und allfällige Erlassänderungen in die Wege zu leiten, damit im Kanton Aargau möglichst rasch mindestens ein weiteres Kernkraftwerk in Betrieb genommen werden kann.". Eine Umsetzung gemäss Motionstext ist nicht in der Kompetenz des Kantons, schreibt die regierung weiter. Die Motion könne entsprechend nicht umgesetzt werden.
Die Kantone können sich im Rahmen von Vernehmlassungen und Mitwirkungen auf eidgenössischer Stufe einbringen. Es besteht aktuell eine grosse Dynamik im Bereich der Aufhebung des Bauverbots neuer KKW. Der Kanton Aargau beobachtet auch ohne Überweisung der Motion die Veränderungen auf Bundesebene in diesem Bereich.
Wird die Bundesgesetzgebung entsprechend angepasst, überprüft der Kanton Aargau die möglichen Anpassungen der kantonalen Grundlagen. Der Regierungsrat anerkennt die Wichtigkeit eines vorausschauenden Dialog- und Denkprozesses, auch im Rahmen von Eventualplanungen, um für zukünftige Entscheide des Bundes vorbereitet zu sein. Dies kann auch die Eigentümerstrategien des Kantons Aargau betreffen und Implikationen auf die Energiestrategie des Kantons haben. Wie genau dieser Prozess auszusehen hat, ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer zu definieren und auch dem Umstand geschuldet, dass der Kanton selbst in diesem Kontext keinen gesetzlichen Spielraum hat.
Unabhängig vom vorliegenden Vorstoss, begrüsst der Regierungsrat einen sicheren Weiterbetrieb der KKW im Rahmen einer Laufzeitverlängerung. Aufgrund der oben beschriebenen Kompetenzverteilung sei eine Motion kein mögliches Instrument, um das Anliegen auf kantonaler Ebene aufzunehmen. Erst nachdem der Bund die Erlassänderung durchgeführt hat, stelle sich subsidiär für den Kanton die Frage nach dem weiteren Vorgehen. Der Regierungsrat lehnt daher die Motion ab.
Das genau fordert die SVP-Motion
Die SVV-Fraktion (Sprecher Pascal Furer) will den Regierungsrat beauftragen, alle notwendigen Vorkehrungen und Absprachen zu treffen und allfällige Erlassänderungen in die Wege zu leiten, damit im Kanton Aargau möglichst rasch mindestens ein weiteres Kernkraftwerk in Betrieb genommen werden kann.
Die SVP begründet das so: Der Bundesrat wolle das Neubauverbot für Kernkraftwerke aufheben lassen. Dies sei richtig und wichtig, damit mit mindestens einem neuen Kernkraftwerk die unterbruchsfreie Lieferung von genügend und sauberer elektrischer Energie gewährleistet werden könne.
Dies sei Voraussetzung für einen zukunftsfähigen Kanton Aargau – und eine zukunftsfähige Schweiz – mit einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft als Grundlage für den Wohlstand der gesamten Bevölkerung. Als Energiekanton mit bereits drei Kernkraftwerken an zwei Standorten sei der Kanton Aargau "prädestiniert, beim Ausbau der Kernenergie an vorderster Front mitzuhelfen. Die Bevölkerung vertraut der Technologie und genügend Fachkräfte sind bereits ansässig", heisst es im Vorstoss weiter.
Auch finanzielles Engagement des Kantons prüfen
Der Regierungsrat soll den Prozess für den Ausbau anstossen, die notwendigen Rahmenbedingungen für einen Neubau sicherstellen und die allfälligen Erlassänderungen in die Wege leiten. Es sollen auch Gespräche mit bestehenden und möglichen künftigen Betreibern und Investoren geführt werden, um auch die Bedürfnisse dieser Seite abzuholen, so die SVP-Fraktion. Auch ein finanzielles Engagement oder Garantien des Kantons – direkt oder indirekt über seine Energiefirmen – sollen geprüft werden, falls notwendig; selbstverständlich unter entsprechender Abgeltung